Die Renaissance der Dandys

Da Großbritannien der zunächst nur äußerst beschwerlich zu überquerende Ärmelkanal vom europäischen Festland trennt, hat man sich hierzulande längst daran gewöhnt, dass sich im isolierten Königreich ein ganz besonderer Menschenschlag – und besonders wertige Regenschirme – entwickelten. Noch immer dringen deshalb bisweilen absonderlich klingende Geschichten an das deutsche Ohr, die von eigentümlichen Bräuchen auf der Insel berichten. Zu eben diesen ist mit Sicherheit auch das Umbrella Jousting zu zählen, das vor wenigen Tagen selbst den Fernsehsender BBC in ratloses Erstaunen versetzte.

Bei der auch 2015  im Londoner Bedford Square Garden ausgetragenen Meisterschaft im Regenschirm-Fechten trauern die Teilnehmer schließlich einer längst ausgestorbenen Epoche hinterher, in der noch das mit Ehre besetzte Duell zwischen Mann und Mann über die Gunst einer Frau oder noch größerer Reichtümer entschied. Da es dem gemeinen Hauptstädter mittlerweile jedoch zumeist am vierbeinigen Untersatz mangelt, werden die Pferde beim Umbrella Jousting kurzerhand durch Fahrräder ersetzt – und statt mit einer Lanze ziehen die Kämpfer mit Regenschirmen in die Schlacht. Jeder Teilnehmer kann dabei offenbar mit einem Schirm seiner Wahl antreten: ein vernünftiger Lanzenersatz wäre der Gästeschirm 3XL Fiberglas Doorman in schwarz, der mit einer geschlossenen Länge von 128 cm überzeugende Reichweitenvorteile böte…

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Abgesehen von der auf den ersten Blick etwas improvisiert wirkenden Ausstattung ist das Schirm-Fechten denkbar eng an das einstmals bei Ritterturnieren besonders populäre Lanzenstechen angelehnt; schließlich gilt es auch hier, den jeweiligen Konkurrenten mit einem gezielten Stich auf den Hosenboden zu befördern. Das weitere Outfit weicht dann allerdings doch ziemlich deutlich von den heldenhaften Vorbildern ab: Immerhin werden die erwähnten Drahtesel und schwarzen Regenschirme von mehr oder weniger eleganten Tweed-Anzügen, Melonen und Schnauzbärten komplettiert.

Dieser offensichtliche Stilbruch ist dabei natürlich nicht auf die vermeintliche Geschichtsvergessenheit der „Sportler“ zurückzuführen. Vielmehr fällt diese Dienstkleidung auf den Veranstalter der jährlichen „Chap Olympiad“ zurück, in deren Rahmen auch das Umbrella Jousting ausgetragen wird. Das alle zwei Monate erscheinende Magazin gleichen Namens hatte sich nämlich schon mit der Erstausgabe im Jahre 1999 der großen Aufgabe verschrieben, den dandyhaften Way of Life in der englischen Hauptstadt zu einer neuerlichen Blüte zu verhelfen.

Namentlich der Editor Gustav Temple hat ziemlich genaue Vorstellungen, wie man sich im Sinne von Chap angemessen kleidet; so wird neben dem Tragen von Anzügen beziehungsweise Kleidern auch einer Renaissance von Hüten und Schnauzbärten das Wort gedreht. Handgefertigte Schuhe und auf Kante gebügelte Hosen machen das perfekt gekleidete Mannsbild schließlich komplett – und selbstverständlich helfen hochwertige Stockschirme dabei, dieses Gesamtkunstwerk dann auch sicher durch den ersten Regenschauer zu bringen.

Nicht zuletzt diesem strengen Kleiderkodex – der naturgemäß weder praktische Taschenschirme noch Werbegeschenke kennt – dürfte es maßgeblich geschuldet sein, dass sich die „Chap Olympiad“ einer stetig wachsenden Beliebtheit erfreut. War dieses Spektakel bei der Erstausgabe zunächst nur als eine einmalige Veranstaltung angedacht, bekam London im vergangenen Sommer bereits zum achten Mal das Festival der möglicherweise bestgekleideten Sportler der Welt zu sehen: Schirm-Fans sollten sich deshalb vorsorglich schon den 16. Juli 2016 im Kalender vermerken, wenn die Olympiade bereits in ihre neunte Runde geht.

Für den stolzen Eintrittspreis von 20 Pound bekommen die Zuschauer allerdings mitnichten nur übermütige Briten und deren Regenschirme zu sehen; neben dem Umbrella Jousting werden schließlich auch noch etliche andere Disziplinen absolviert, bei denen sich Eleganz und sportliche Höchstleistungen vereinen. Wem etwa das Hauen und Stechen mit Regenschirmen als zu martialisch erscheint, der kann sein Glück stattdessen gern beim Wettlauf der Butler versuchen, bevor dann pünktlich zum Sonnenuntergang eine Runde „Bowler Hat Golf“ diese gewiss einmal mehr denkwürdige Veranstaltung beschließt.